Selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Lernen von Marie-Helen Scharf

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sehr geehrte Frau de la Motte,

Sehr geehrte Frau Prien,

ich  wende mich hiermit an Sie, um Ihnen etwas mitzuteilen – als Mutter eines schulpflichtigen Mädchens in Schleswig-Holstein.

Meine Tochter, Marie-Helen (14 Jahre), dürfte Ihnen mittlerweile bekannt sein – zumindest per Akte und Papier, denn wie wir hörten, sei sogar die Ministerin schon in unseren „Fall“ involviert.

Marie-Helen hat zu Anfang des Jahres 2017 beschlossen, der Schulbesuchspflicht nicht mehr nachzukommen sondern sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu bilden. Diesbezüglich hat sie sich mehrmals an das Ministerium gewandt mit der Bitte, ihr in ihrem Wunsch entgegenzukommen und mit ihr ein ähnliches Abkommen wie das aus Tübingen bekannte zu treffen, welches sie auch als Anlage mit eingereicht hat.

Von Ihrer Seite kam über mehrere Monate keine Antwort, bis Sie dann schließlich die Anfrage meiner Tochter mittels vieler Rechtsbelehrungen und Paragraphen verneinend beantworteten.

Ich wollte damals am liebsten das Land verlassen, da ich wusste, was auf Familien zu kommt, wenn ihre Kinder ein derartiges Bedürfnis äußern. Dieser „einfache“ Weg wurde uns verwehrt. Wir mussten bleiben und uns offiziell mit den Behörden auseinandersetzen.

Mittlerweile stehen wir diesbezüglich vor mehreren Gerichten. Diese Tatsache sowie die Buß- und Zwangsgelder sowie die angedachten „Maßnahmen“ des Familiengerichts dürften ihnen auch bekannt sein – Sie sind ja schließlich auch in einige dieser Entscheidungen involviert. Der letzte Beschluss des Amtsgerichts Husum (Familiengericht) kam, nochmals zur Erinnerung, zu dem Urteil, den Willen meiner Tochter notfalls mittels Zwangshaft ihrer Mutter brechen zu wollen. Das OLG allerdings kam im Dezember nun zu einem ganz anderen Urteil.

Ich selbst bin ausgebildete Lehrerin und befand mich bis zum Jahr 2016 als Studienrätin für die Fächer Latein und Englisch noch in Ihren Diensten. Da ich meine Tätigkeitsfelder – künstlerische Tätigkeit als Sängerin, therapeutische Tätigkeit als Musik-Gestaltberaterin – zeitlich nicht mehr mit meinem Beruf als Studienrätin in Korrekturfächern vereinbaren konnte, entschied ich mich Ende 2016 zur Kündigung und wurde im Sommer 2017 aus dem Dienst entlassen, da von Ihrer Seite aufgrund des Lehrermangels es nicht als möglich gesehen wurde, mir – bspw. durch fachfremden Unterricht in künstlerischen Fächern ohne den immensen Korrekturaufwand oder verstärkten Einsatz in der Unterstufe – entgegen zu kommen, so dass ich all meine Berufsfelder hätte ausüben und vielleicht sogar sinnvoll und gegenseitig befruchtend hätte kombinieren können.

Als Mutter möchte ich Ihnen nun vor dem Hintergrund meiner Berufserfahrungen einige Gedanken mitteilen. Es soll hier nicht in erster Linie um bestehende Regeln wie die Schulpflicht, Paragraphen oder die Frage gehen, warum Sie meiner Tochter keine individuelle Ausnahmegenehmigung erteilen wollen, wie in anderen Bundesländern bereits vorgelebt. Auch nicht um die Frage, warum Sie gegen diesen Fall der Schulabstinenz, wo sich ein junger Mensch das Recht erbittet, sich frei und selbstständig zu bilden, mit solch entschiedener Härte vorgehen – im Gegensatz zu Ihrem Vorgehen bei „normalen“ Fällen mit „klassischer, unproduktiver Schulabstinenz mit Schulversagen“ – wo sich meist niemand weiter kümmert und der betreffende junge Mensch dann als „unbeschulbar“ „abgeschult“ wird.

Es soll gehen um Fragestellungen und Gedanken einer Mutter.

Ich selbst war wie gesagt Lehrerin. Meine Ausbildung fand statt zur Zeit des „Paradigmenwechsels“ – weg von den „Lernzielen“ hin zur „Prozessorientierung“ und zur offenen, an den Bedürfnissen der Schüler orientierten Unterrichtsgestaltung. Ein Merksatz aus der Zeit meines Referendariats, der sich eingebrannt hat, lautet „wir holen die Schüler dort ab, wo sie gerade stehen“. Der Fokus wird gesetzt auf das Individuum. Individuelle Lernprozesse werden gefördert. Der Lehrer sieht sich in einer neuen Rolle, nämlich der des „Unterstützers“, da die Wissenschaft erkannt hat, dass der (junge) Mensch nur aus eigener Erfahrung lernt und das am besten ganzheitlich und mit allen Sinnen. Viele neue Erkenntnisse aus der Gestalttheorie fanden und finden Eingang in die Arbeit der Pädagogen. So soll sich der Lehrer immer mehr zurück nehmen, die Schüler ihre Lernprozesse selbst gestalten. Bereits in jungem Alter werden die eigenen Methoden, Prozesse und Arbeitswege reflektiert. Der Unterricht findet nicht mehr frontal statt, sondern offen, unter Einbeziehung jedes einzelnen Schülers. Wichtige Schlagworte sind „Begeisterung“ und „intrinsische Motivation“.

Ich könnte noch viele Veränderungen nennen – aber die kennen Sie ja schließlich alle selber.

In diesem neuen „Geist“ habe ich meine Ausbildung absolviert. Ich habe an die Dinge geglaubt, die wir dort gemacht haben und fand diese neuen „Ansätze“ prima. Sie haben meiner persönlichen „Haltung“ entsprochen und ich habe diese „Haltung“ und einen solchen „Umgang“ auch in meinen Beziehungen mit meinen und anderen Kindern, sowie in anderen Arbeits- /Zusammenhängen gelebt. Der Ansatz der Gestalttheorie, der in die Pädagogik und damit die Schulen und Arbeitsweise der Lehrkräfte Eingang fand, verstärkte sich durch meine Ausbildung in Gestalttherapie zur Musik-Gestalt-Beraterin. Genau wie im Unterricht, wo sich der Lehrer heutzutage als „Unterstützer“ sieht und anerkennt, dass die jungen Menschen nur durch „eigene Erfahrung“ lernen – und dies am besten „ganzheitlich“ und „mit allen Sinnen“ – so erkennt auch der Gestalt-Therapeut  an, dass er den Klienten nur als „Unterstützer“ auf seinem Weg begleitet. Er „weiß nicht alles besser“ – wie es in anderen Therapieansätzen bisweilen praktiziert wurde und/ oder noch wird – sondern verlässt sich darauf, dass die Antworten im Klienten selber liegen. Dieser wird nicht als „Objekt interpretiert“, sondern als eigenständiges Subjekt wahrgenommen und anerkannt, dass er selbst am besten weiß, was gut für ihn ist. Der Therapeut versteht sich als „Fragender“, nicht als „Wissender“ – und hier liegt die Entsprechung der „neuen“ Therapeutenrolle zur „neuen“ Lehrerrolle nach dem Paradigmenwechsel.

In diesem Geist habe ich also nicht nur meine Schüler behandelt, sondern auch meine eigene Tochter. Dies hat dazu geführt, dass sie schon recht früh zu einer eigenständigen, selbstbewussten Persönlichkeit gereift ist. Unter Wahrung ihrer Integrität, in Treue zu sich selbst hat sie schon sehr früh gewusst, welche Entscheidungen sie für sich treffen will, möchte oder muss. Auch sehr früh hat sie begonnen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.

Ich würde behaupten, in diesem Sinne war meine „Arbeit“ als Mutter und Pädagogin sehr erfolgreich und zielführend, denn ich habe nun einen jungen Menschen vor mir, der selbstbestimmt und eigenverantwortlich sein Leben anpackt. Das „Ziel“, das auch die Schule erreichen möchte, habe ich somit erreicht.

Nun kommen wir zum Problem, welches hieraus resultiert. Ich habe das „Ziel“ erreicht – nur leider „vor der Zeit“, denn es ist nicht geplant, dass junge Menschen schon im Alter von 14 selbstbestimmt und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Dies sollen sie erst mit 18 „können“. Zudem ist in diesem – zumindest schulischen – Konzept nicht mit eingeplant, dass diese jungen Menschen, ist man ihnen treu geblieben und konnten sie sich treu bleiben, hat man ihre Selbstbestimmtheit geachtet und sie immer aktiv und selbstbestimmt handeln lassen, sich plötzlich entscheiden etwas zu tun, was sie nicht „tun sollen“ oder „dürfen“. Wir suggerieren diesen jungen Menschen also eine „Freiheit“, die es in einem zentralen Punkt nicht gibt. Wir tun immer so, als würden wir sie „dort abholen, wo sie gerade stehen“ – aber kalkulieren nicht ein, dass sie vielleicht ganz woanders stehen wollen, als wir es ihnen vorgegeben haben. Und wir haben nicht mit einkalkuliert, dass sich einige junge Menschen vielleicht gar nicht „abholen lassen wollen“ – sondern lieber „sitzen bleiben“!

Die „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ endet abrupt, wenn sich die jungen Menschen plötzlich entschließen NEIN zu sagen. Und dabei ist dies die elementarste Freiheit eines Menschen: NEIN sagen zu können. Situationen, Menschen, Orte verlassen zu können. Sich entscheiden zu dürfen, weg zu gehen. Botschaften, die den jungen Menschen bis dato vermittelt wurden, wie „Ich sage nein“, aus Kinderbüchern und –filmen, Gewaltpräventionsspielen, Unterrichtseinheiten etc., wo man ihnen nahelegt, sich gegen Angriffe auf ihre Freiheit und Selbstbestimmtheit zu wehren, diese Botschaften finden ein plötzliches Ende und verdrehen sich geradezu in ihr Gegenteil, in ein  „entweder du tust, was wir wollen, oder wir werden dich dazu zwingen“, wenn der junge Mensch sich plötzlich entscheidet, dem „Schulanwesenheitszwang“ nicht mehr nachzukommen. Sich nicht mehr „abholen“ zu lassen. Sitzen zu bleiben, stehen zu bleiben, oder einfach allein weiter zu laufen. Hier endet die bis dato propagierte „Freiheit“, „weil das nunmal Gesetz ist.“ „Weil das Regel ist“. „Weil das immer so war“. Hier findet die Selbstbestimmung  und Eigenverantwortlichkeit ein plötzliches Ende.  Und dabei wurden und werden Gesetze und Regeln doch von Menschen für Menschen gemacht. Sie fallen nicht vom Himmel und sind festgeschrieben, sondern sie können geändert und den aktuellen Bedingungen angepasst werden. Und gerade die Schulpflicht wurde doch einmal zum Wohle der Kinder erlassen – damit jeder junge Mensch in den Genuss von Bildung kommen kann und nicht in Kinderarbeit ausgenutzt wird. Was, wenn sich die Zeiten geändert haben?

Wie sollen diese jungen Menschen das mit der angeblichen Freiheit und Selbstbestimmung nun verstehen? Sie waren und sind also gar nicht „selbstbestimmt“? Das, was ihnen in Schule – und Elternhaus – vermittelt wurde und wird, war und ist im Grunde alles eine „Farce“?! Es geht im Grunde gar nicht um sie?! Wenn sie in bestimmten Aspekten Selbstbestimmung fordern – dann werden sie mit Zwang und Gewalt, mit Bestrafung und Erpressung daran gehindert?! Dann werden sie sogar aus ihren Familien geholt, die Eltern eingesperrt und die jungen Menschen psychiatrisiert?

Wie sollen diese jungen Menschen dieses Paradoxon verstehen? Wie damit umgehen?

Als Lehrerin war mir dieses Problem nicht wirklich bewusst. Wie leichtfertig habe ich hingenommen, dass die „Grundrechte nunmal durch die Schulgesetze beschnitten werden“. Dass „halt Schulpflicht herrscht“. So ist das eben. In diesem Korsett bin ich selbst groß geworden – wie hätte ich bemerken sollen, dass es tatsächlich drückt?

Und wie leichtfertig habe ich geglaubt, dass sich diese – bis jetzt in Deutschland noch gängige – Praxis der Schulhausanwesenheitspflicht decken lässt mit dem Paradigmenwechsel und den damit einhergehenden Veränderungen im Umgang mit den (jungen) Menschen!

Ich habe mir zwar ab und an Fragen gestellt – Fragen wie „warum funktioniert das so selten mit der intrinsischen Motivation“, „warum herrscht dennoch so viel Unlust?“, „warum fehlt es so oft dennoch an Aktivität und Eigenverantwortlichkeit?“ „wo ist der Wille nach Selbstbestimmung?“ … . Antworten habe ich in meiner Zeit an der Schule nicht gefunden – bzw. habe sie irgendwo anders gesucht, bin aber nicht zur Ursache vorgedrungen. Gesucht habe ich im Elternhaus, beim jeweiligen Fach, beim Lehrer … .  Na klar, welcher Schüler liebt schon Latein?

Erst jetzt, durch den starken Willen meiner Tochter, aber vor allem durch den Umgang der Behörden und Ämter mit ihr und unserer Familie auf Grund ihrer Willensbekundung, aufgrund fast zwei Jahren selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lernens, vielen Gesprächen und vielen Gerichtsverfahren – erst jetzt habe ich erkannt, dass diese Gedanken und Konzepte nicht vereinbar sind: Fokus auf Freiheit, Selbstbestimmung, individuellem Rahmen, Eigenaktivität und Verantwortung einerseits – und Schulpflicht und Schulhausanwesenheitszwang andererseits. Zudem können wir nicht regeln und per Gesetzt festlegen und bestimmen, wann der jeweilige individuelle junge Mensch dieses Ziel erreicht haben soll, endlich frei und selbstbestimmt sein zu können und zu dürfen.

Wir können junge Menschen nicht so behandeln, als seien sie frei und selbstbestimmt – und uns dann wundern, dass sie diese Freiheit und Selbstbestimmung tatsächlich in die Realität umsetzen.

Wir sollten uns aber auch andererseits nicht wundern, wenn die jungen Menschen den „Braten“ genau riechen: die Suggestion von Freiheit und Selbstbestimmung, die aber im Grunde nicht real ist sondern nur „heiße Luft“, „Schall und Rauch“.  Wir sollten uns nicht wundern, dass diese „Pseudofreiheit“ nicht angenommen wird und nicht zu „intrinsischer Motivation“ führt. Die jungen Menschen wissen, dass sie nicht „frei“ und „selbstbestimmt“ sind – und so bleibt irgendwie alles beim Alten und die Umstände an unseren Schulen verändern sich nicht – trotz aller unserer Anstrengungen auf vielen Ebenen. Im Gegenteil – eigentlich wird alles noch schlimmer. Früher wurden die jungen Menschen offen gezwungen, geprügelt – systemimmanent. Heute werden sie weiterhin gezwungen – unter dem Deckmantel der Freiheit und Selbstbestimmung.

Als Mutter erkenne ich nun, was und warum ich gewisse Dinge als Lehrerin nicht geschafft habe und warum so einiges nicht funktioniert hat, denn:

Meine Tochter lernt aus „Begeisterung“.

Meine Tochter lernt „intrinsisch motiviert.“

Meine Tochter mag und liebt Fächer und Themen, die sie vorher „Scheiße“ fand.

Meine Tochter arbeitet freiwillig, konzentriert und über Stunden an einem Thema.

Meine Tochter denkt „fächerübergreifend“.

Meine Tochter entwickelt von sich aus „Methodenkompetenz“, arbeitet „strukturiert“ und „eigenverantwortlich“, „“ und „problemorientiert“ – ohne für etwas „benotet“ oder bewertet zu werden –  oder gerade aufgrund der fehlenden ständigen Bewertung und Kontrolle.

Meine Tochter liebt es zu lesen.

Meine Tochter liebt es, sich zu bilden.

Meine Tochter geht freiwillig in Museen und informiert sich freiwillig über Inhalte.

Meine Tochter liebt Bibliotheken.

Meine Tochter liebt es, aktiv und selbstbestimmt ihren Bildungsprozess zu gestalten – und sich Unterstützung zu holen, wenn sie meint, dass sie welche braucht.

Meine Tochter liebt es zu lernen!

Dies war nicht immer so.

Und dies war auch nicht so bei einer Vielzahl meiner ehemaligen Schüler.

Meine Tochter will sich bilden. Sie will lernen.

Sie wird dazu nicht „gezwungen“. Sie tut dies alles freiwillig, selbstbestimmt, eigenverantwortlich und mit großer Begeisterung.

Nun geben Sie mir bitte einen Rat. Wie soll ich mich nun als Mutter verhalten? Wie soll ich mit der Schulabstinenz meiner Tochter umgehen?

Ihr die Vorzüge des Schulbesuchs erklären? Dass es einfacher ist, den Stoff aufbereitet durch Lehrer zugeteilt zu bekommen als sich selbst zu kümmern? Dass es einfacher ist, einer vorgegebenen Struktur zu folgen, als sich selbst zu strukturieren? Dass es einfacher ist, Erklärungen zu lauschen, als sich selbst nach Antworten auf die eigenen Fragen umzusehen? Dass es wesentlich einfacher sein wird, einen Abschluss an einer Schule abzulegen als extern? Dass die Schule ein Raum der Sozialisation ist und ihr Kontakte ermöglicht über den Rahmen ihres Elternhauses hinaus? Dass es in der Schule nicht nur um das Lernen geht, sondern um die sozialen Kontakte? Dass eine Schulabstinenz Probleme mit sich bringt mit verschiedensten Behörden? Dass Maßnahmen eingeleitet werden können – von Zuführung über Strafgeldern bis hin zu Sorgerechtsentzug und Haftstrafen? Dass, dass, dass…?

Wo soll ich meine Tochter „abholen“? Inwieweit darf ich auf ihre individuelle Bedürfnislage eingehen?

Und wenn sie das alles weiß? Und wenn sie das alles in Kauf nimmt? Und wenn sie zu allen Argumenten Gegenargumente bringt?

Dass sie auf die Vorzüge gern verzichtet. Dass sie es nicht „einfach“ will sondern Schwierigkeiten in Kauf nimmt und sich dennoch lieber selbst „kümmert“. Dass sie nicht einfach „folgen“ will, sondern sich selbst auf den Weg machen. Dass sie sich und ihr Lernen selbst strukturieren möchte. Dass sie selbst die Antworten auf ihre Fragen finden möchte und findet. Dass nicht jede Antwort beim Gegenüber einen Verstehensprozess bedingt – und dass sie daher so lange suchen möchte und sucht, bis sie Antworten selber findet, die sie „verstehen“ lassen. Dass sie in Kauf nimmt, dass ein externer Abschluss schwieriger zu erlangen ist. Dass sie aber weiß, dass sie diesen ablegen kann, auch in Deutschland – vorausgesetzt sie ist „extern“ – also kein Schüler dieses Schulsystems. Dass sie sehr wohl gut sozialisiert ist – auch und vor allem außerhalb der Schule und über vielfältige Kontakte verfügt, die über den familiären Rahmen weit hinausgehen – und sogar viel weiter als zu ihren Schulzeiten. Dass sie genau weiß, was ihre Schulabstinenz für sie und ihre Familie bedeutet und bedeuten kann. Dass sie aber auch weiß, dass in anderen Bundesländern Ausnahmen getroffen wurden. Dass viele Familien auch in Deutschland ihren Kindern diesen Weg ermöglichen. Dass im Ausland kein Schulzwang herrscht. Dass es auch hier bei uns möglich ist, Wege zu finden, um selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu lernen – vor allem, wenn die Eltern hinter ihren Kindern stehen. Dass sie dies alles weiß – über Lektüre, Kontakte sowie aus eigener Erfahrung.

Dass sie dann viele weitere Argumente ins Feld führt bspw. dass sie nun endlich gerne lernt. Dass sie sich in Themen vertieft – so lange, bis sie sie wirklich verstanden hat? Dass sie nun gerne liest und Bücher verschlingt? Dass sie nun gerne Mathe macht? Dass sie ihre Sozialkompetenz im realen Leben ausprägen und immer wieder anwenden kann und dort auch wahrhafte Verantwortung tragen muss für alle Entscheidungen die sie trifft und Handlungen, die sie vollführt? Dass sie im realen Leben – und nicht im Klassenzimmer – gelernt hat, echte Konfliktsituationen zu meistern, zu diskutieren, Kompromisse zu schließen? Dass sie in realen Zusammenhängen Verantwortung übernommen hat? Dass sie das Lernen liebt.

Was raten Sie mir nun als Mutter? Wie soll ich meiner nun eigentlich beinahe erwachsenen, meiner sehr reifen Tochter begegnen? Meiner informierten Tochter. Meiner Tochter, die einen klaren Willen hat bezüglich ihrer eigenen Bedürfnisse, bezüglich ihrer Integrität. Was vor allem soll ich ihr raten, wenn ich doch ihre Entwicklung wahrnehme. Ihren Lernwillen. Ihre Begeisterung. Wenn ich Qualitäten wahrnehme, die ich an ihr während ihrer Schulzeit und bei meinen Schülern so oft vermisst habe? Wie soll ich mit ihrem Vertrauen umgehen? Unserer Beziehung? Dem uneingeschränkten Vertrauensverhältnis zwischen uns? Wie mit unserem würdigenden, respektvollen und achtsamen Umgang – in der es bisher niemals „Bevormundung“ gab? In dem es keine Lügen, Beschönigungen, Drohungen oder Manipulationen gab? Wie mit meinem Vertrauen in meine Kinder? Wie damit, dass ich meine Kinder in ihren Äußerungen respektiere, sie ernst nehme und darauf vertraue, dass sie wissen und signalisieren, was gut für sie ist und was nicht? Wie mit unserer Beziehung, die nie an „Bedingungen“ geknüpft war, bei der das Maß an Zuneigung nie von ihrem Verhalten oder ihren Handlungen abhängig gemacht wurde? Wie soll ich als Mutter damit umgehen, dass meiner Tochter nun die Möglichkeit vorenthalten wird, eine eigene Entscheidung zu treffen – sicher eine der wichtigsten Fähigkeiten, die ein Mensch für sein Leben braucht? Auch wenn diese Entscheidung nicht der Norm entspricht. Wie sollte ich damit umgehen, dass ich meine Tochter darin unterstützt habe, zu selbstbestimmtem, aktiven Handeln zu finden, mündig und selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu sein – und sie dies nun ist, allerdings vor der per Gesetz festgelegten Altersgrenze und bevor sie ihre Zertifikate hierüber eingesammelt hat?

Was raten Sie mir, werte Fachkräfte und Pädagogen? Soll ich die Prinzipien, die Haltung, mit der ich meine Tochter ihr Leben lang bisher begleitet habe, eine Haltung, die ich auch und vor allem in ihrem Hause erlernt und eingeübt habe, soll ich diese nun über Bord werfen und meiner Tochter erklären, das war alles nicht so gemeint? Sie war zu „schnell“. Ihre Selbstbestimmung ist gut – aber zu früh? Sie ist gut – aber nicht im Punkt des eigenverantwortlichen Lernens – zumindest nicht hier in Deutschland, denn hier gelten andere Regeln als im Rest Europas. Und in Schleswig-Holstein andere als in anderen Bundesländern. Und ändern können wir daran nichts, wir können nicht umziehen oder andere Wege für sie finden – da dies von anderer Seite nicht erlaubt und nicht gewünscht ist. Sie soll eigenverantwortlich und aktiv handeln – aber nur im vorgegebenen Rahmen und in bestimmten Punkten muss sie tun, was von ihr verlangt wird – weil wir nunmal leider in Schleswig-Holstein wohnen. Und ich mit ihr nicht umziehen darf.

Soll ich die Bedürfnisse meiner Tochter nun ignorieren, weil das „hier so die Regel ist“?

Natürlich – Zwangsmaßnahmen könnten sie eventuell dazu bringen, sich auf bestimmte Weise (nicht) zu verhalten – aber niemals dazu, etwas zu wollen oder gern zu tun.

Wie soll ich als Mutter mit diesen „Doppelbindungen“, diesen unvereinbaren Mitteilungen und paradoxen Handlungsanweisungen umgehen, die von Seiten des Schulsystems und von Ihnen ausgehen? Diese und deren Sinn und Zweck durch Befolgung missachten und dabei meine Tochter verraten? Oder sie – als MUTTER – nicht befolgen und damit meiner Tochter treu bleiben, ihre Selbstbestimmtheit achten und sie selbstbestimmt sein und aktiv handeln lassen? Damit dann aber Gefahr zu laufen, als „erziehungsunfähig“ bezeichnet zu werden – da meine Tochter sich nicht entscheidet zu tun, was sie tun „soll“ oder „muss“? Mich als Mutter der Haltung ergeben „entweder du tust jetzt, was wir wollen, oder wir werden dich dazu zwingen“? Meiner Tochter nahezulegen, sich zu „unterwerfen“ und ihren Willen und ihre Bedürfnisse zu ignorieren, zu meinem Wohl – um weiteren Strafen und Drohungen, über Geld bis hin zu Haft, zu entgehen?

Ich als MUTTER kann Ihnen nach all diesen Überlegungen, nach all den Erfahrungen der letzten Monate, nach all den Begegnungen, Gesprächen, Briefen und Schreiben und dem Umgang von Seiten der Behörden – vor allem von Ihrer Seite – mit meiner Tochter und mir nun nur eins mitteilen:

Ich darf keine Entscheidung zugunsten der Bedürfnisse meiner Tochter treffen wie bspw. ins Ausland ziehen , um der Schulpflicht zu entgehen, oder sie auf einer Fernschule anmelden – da ich nur geteiltes Sorgerecht habe.

Meine Tochter und ich müssen demnach vor Ort bleiben und uns dieser Situation stellen.

Ich werde die Grundrechte meiner Tochter nicht missachten. Ich werde ihren Willen nicht brechen und sie nicht gegen ihren Willen in die Schule zwingen. Ich werde weiterhin nicht länger zulassen, dass ihr Wille von anderen an mein Wohl gekoppelt wird. Sollten die offiziellen Stellen tatsächlich länger davon ausgehen, mit einer Zwangshaft meiner Person den Willen meiner Tochter brechen zu können und wollen, dann teile ich Ihnen hiermit mit, dass ich diese Haft dann in Kauf nehmen werde. Ich werde meine Tochter nicht bitten, doch – wenn schon nicht aus anderen Gründen dann – „meinetwegen“ in die Schule zu gehen.  Ich werde mein Wohl nicht an die Bedürfnisse und das Wohl meiner Tochter koppeln.

Sie als Mitarbeiter einer Behörde möchte ich bitten darüber nachzudenken, wie sie mit der Eigenverantwortlichkeit und dem Willen auf Selbstbestimmung eines jungen Menschen weiterhin umgehen möchten. Meine Tochter verweigert sich nicht dem Lernen. Sie verweigert sich nicht, sich zu bilden. Sie verweigert sich nicht sozialen Kontakten.

Meine Tochter hat Sie um eine andere Form des Lernens gebeten und darum, sie von der Schulbesuchspflicht zu befreien. Sie wissen, dass andere Bundesländer dies bereits möglich gemacht haben.

Ich respektiere den Willen meiner Tochter. Ich bin MUTTER. Und ich liebe mein Kind.

Vielen Dank, dass Sie meine Zeilen gelesen haben.

Ich wünsche, dass wir zu einer förderlichen und zielführenden Einigung unter Berücksichtigung der Persönlichkeit, der Bedürfnisse und der individuellen Struktur meiner Tochter finden können.

(Antje Scharf)

PS:

Aufgrund der Erfahrungen während der letzten Monate mit Ihrer Behörde, aufgrund Ihrer Darstellung unserer Personen und  der Situation vor den Gerichten habe ich mich entschlossen, an die Presse zu gehen und unseren Fall öffentlich zu machen. Ich erhoffe mir dadurch einen ehrlichen Umgang und eine faire Behandlungsweise und dass Sie ermutigt werden, unseren „Fall“ individuell zu betrachten. Reflektieren Sie den Unterschied zwischen Grundsätzen und Prinzipien und erinnern Sie sich, warum die Schulpflicht eigentlich erlassen wurde. Sie sollte etwas Gutes bewirken.

Aus den genannten Gründen werde ich auch diesen Brief an Sie als offenen Brief gestalten. Ich hoffe auf ihr Verständnis.