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Hamburger Abendblatt / Berliner Morgenpost

Caroline Rosales       21.11.2018

Ex-Lehrerin riskiert Strafe für Homeschooling der Tochter

14-Jährige aus Schleswig-Holstein lernt zu Hause. Ihre Mutter könnte dafür bald in Beugehaft gehen. Was treibt die beiden an?

Osterhever.  Eltern neigen dazu, immer die eine Geschichte zu erzählen, um das Naturell ihres Kindes besser in Worte fassen zu können. Bei Antje Marie-Luise Scharf ist es diese hier. Ihre heute 14 Jahre alte Tochter Marie-Helen nahm vor einigen Jahren Reitstunden in der Nähe ihres Wohnorts Osterhever, am äußersten Zipfel von Nordfriesland bei Husum.

Besonders angetan hatte es Marie-Helen ein Pferd namens Norne, jedoch weniger die neue Reitlehrerin. Diese gab Anweisungen, kommandierte herum, bis die damals achtjährige Marie-Helen vom Pferd stieg, wutstampfend die Reithalle verließ und dort nie wieder gesehen wurde.

Sie malt, vernetzt sich online, gewinnt Wettbewerbe

„Marie-Helens Durchsetzungsvermögen war immer sehr ausgeprägt“, sagt Antje Scharf und lacht. Dabei drohen ihr als Mutter nun ernste Konsequenzen wegen des starken Willens ihrer Tochter: Inzwischen ist es bald zwei Jahre her, dass ihre Tochter der Schule den Rücken gekehrt hat und zu Hause lernt. In dieser Zeit malt sie, vernetzt sich online in Lerngruppen, gewinnt mit ihrer Turngruppe Wettbewerbe.

Keine Schule besuchen – das geht in Deutschland natürlich nicht einfach so. Hierzulande herrscht Schulpflicht – in der Praxis bis zum 18. Lebensjahr, weil an die Schulpflicht die Berufsschulpflicht anschließt, erklärt der Anwalt der Familie, Andreas Vogt.

Etwa 1000 Kinder gehen nicht zur Schule

Der Jurist aus Hessen hat in den vergangenen Jahren Dutzende Mandanten vertreten, deren Kinder aus den verschiedensten Gründen nicht zur Schule gehen. Etwa 1000 Kinder, so schätzen Experten, bleiben in Deutschland Lehranstalten fern. Ihre Eltern sind nahezu immer in komplizierte rechtliche Verfahren verwickelt.

Die Gruppe dieser Eltern sei gebildet, keineswegs homogen, aber „eine wachsende Minderheit“, skizziert Vogt. Einige der Eltern wollen ihre Kinder zu Hause unterrichten, in anderen Fällen lernen sie selbst mit Hilfe von Apps, Videos und Büchern vom heimischen Schreibtisch aus, so wie Marie-Helen.

1000 Euro Zwangsgeld – oder Haft

Für den Gesetzesgeber sind solche Fälle keine Lappalie. Wer sein Kind nicht zur Schule schickt, riskiert ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, den Sorgerechtsentzug bis hin zu Strafzahlungen und Beugehaft. Diese droht nun Anja Scharf. Es ist die nächste Eskalationsstufe nach langen Prozessen um potenzielle Kindeswohlgefährdung, die schließlich vonseiten des Gerichts nicht nachgewiesen werden konnte.

Am Freitag lag der Feststellungsbescheid mit der Aufforderung zur Zahlung von 1000 Euro Zwangsgeld dann ihrem Briefkasten. Ansonsten drohe Haft für die zweifache Mutter, die noch einen fünfjährigen Sohn hat, Marie-Helens Bruder.

Freiwilligkeit in der Erziehung ist ein großes Thema

„Ich kann meine Tochter ja nicht zur Schule zwingen. Was soll ich machen? Sie morgens von zu Hause in die Schule zerren?“, fragt die ehemalige Gymnasiallehrerin. Die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, die zurzeit viel diskutierte Freiwilligkeit in der Erziehung seien große Themen für „Mimi“ und sie.

Vor knapp fünf Jahren unterrichtete sie selbst noch Schüler von der fünften Klasse bis zum Abitur in Latein und Englisch – bis sie sich mit ihrem Mann als Musikerin selbstständig machte. Marie-Helen, so berichtet Scharf, sei aufgeweckt und neugierig, leite sogar Gruppen im örtlichen Turnverein. Abgesehen davon halten die beiden ihren Zeitplan flexibel, kümmern sich um die beiden Pferde der Familie.

Als Elfjährige stößt sie auf die Freilerner-Bewegung

Angefangen habe für Marie-Helen alles mit dem Besuch auf einem Weihnachtsmarkt im Jahr 2015, erzählen Mutter und Tochter abwechselnd während des Gesprächs. „Da war eine Gruppe von Kindern, deren Eltern an einem Stand selbst gemachte Salben und Kosmetika verkauften“, erinnert sich Marie-Helen. „Sie erzählten, sie gehen nicht zur Schule.“

Die damals Elfjährige ließ das fasziniert zurück. Sie begann zu googlen und stieß auf die Freilerner-Bewegung, auf die Thesen des Neurobiologen Gerald Hüther. „Das hat mir wiederum gefallen. Dass sie es begründen konnte“, sagt Antje Scharf.

Für die Behörde ist der Fall bislang einmalig

An einem Montag im Januar 2017 war es schließlich soweit: Marie-Helen blieb zu Hause und ihre Mutter wusste: „Es ist ihr ernst damit.“ Anfangs war Marie-Helen krankgeschrieben. Als der Arzt „einem gesunden Kind“ keine Atteste mehr ausstellte, rückten Psychologen, Schulsozialamtsmitarbeiter und das Jugendamt auf den Plan.

Alle sind sich relativ einig: Der Fall sei bislang einmalig, die Argumente für das Lernen daheim schlüssig – und dennoch gehe die Schulpflicht vor. Der Fall von Marie-Helen landete schlussendlich vor dem Kieler Familiengericht und vor dem Verwaltungsgericht.

Nächste Anhörung vor Gericht am 6. Dezember

Das Kieler Bildungsministerium sagt: „Als Aufsicht müssen wir auf die Einhaltung der Schulpflicht pochen.“ Derweil hat Antje Scharf einen Brief an das Kultusministerium in Schleswig-Holstein geschrieben. „Meine Tochter lernt zu Hause aus Begeisterung, motiviert, ­fächerübergreifend und eigenverantwortlich“, erklärt sie darin.

Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologen­verbandes, hat indes für Heimunterricht kein Verständnis. „Beim Homeschooling lernen die Kinder keine andere Auto­ritätsperson kennen als die eigenen ­Eltern“, sagt er. Die nächste Anhörung vor Gericht ist am 6. Dezember.