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Kein Schulschwänzen: Was passiert, wenn ein intelligentes Kind beschließt, sich sein Wissen zu Hause anzueignen.

Carlo Jolly

Osterhever | Marie-Helen Scharf (14) aus Osterhever ist aufgeschlossen, wissbegierig und vermutlich überdurchschnittlich intelligent. Außerdem reitet sie gerne, turnt und tanzt. Was 14-Jährige eben so machen. „Marie-Helen wusste immer schon, was für sie gut ist“, sagt ihre Mutter Antje Marie-Luise Scharf.

Ziemlich früh weiß Marie-Helen auch, was sie nicht mehr möchte: zur Schule gehen. „Angefangen hat es vor zwei Jahren“, erzählen Mutter und Tochter – eigentlich sogar deutlich früher. Als Marie-Helen acht Jahre alt ist, zieht die Familie zurück an die Nordsee. Vorangegangen seien mehrere Schulwechsel zwischen Berlin und Nordfriesland. Die Mutter berichtet, die immer neuen Umstellungen hätten das Kind schon damals ziemlich genervt: „Das kleine b war in Berlin falsch – und das c aus Berlin war hier wieder verkehrt. Das lief in Deutsch und Mathe so.“ Das Mädchen habe die Sinnhaftigkeit der Schule nicht mehr erkennen können, formuliert die Mutter. Das Zweifeln und Ringen beginnt: Fast jeden Tag kommt Marie-Helen zu spät zur Schule. Sie geht in die Utholm-Schule in St. Peter-Ording.

Weiterer Schulwechsel

Mit dem Wechsel ans Gymnasium wird nichts besser. Das Mädchen nimmt unterschwelliges Mobbing zwischen den Kindern wahr – und leidet, obwohl es sich gar nicht gegen sie selbst richtet. Nach einem halben Jahr der nächste Schulwechsel. Theodor-Storm-Schule in Husum – „eine sehr gute Schule, ein musikbetontes Gymnasium“. Doch bei Marie-Helen bleibt der große Wunsch, anders zu lernen. Möglichkeiten der Fernbeschulung? „Das geht nur, wenn sie krank ist“, erfährt die Mutter.

Dann kommt Weihnachten 2015. Die Scharfs lernen eine Familie mit drei Kindern aus Hamburg kennen: „Die sind nicht zur Schule gegangen.“ Da habe die Tochter von der Mutter verlangt: „Informier’ dich mal.“ Das ernüchternde Ergebnis: „Das gibt’s nicht. In Deutschland kommt man nicht um die Schule herum.“ Mehr als ein Jahr kaut die Tochter auf dem Thema herum, bis die damals Zwölfjährige an einem Sonntag im Januar 2017 ankündigt: „Ab morgen gehe ich nicht mehr zur Schule.“ Da weiß die Mutter: „Sie meint es ernst.“ Die Tochter informiert sich, wo sie kann – von Möglichkeiten eines Auslandsaufenthalts bis zur Lernpsychologie.

Kein klassisches Schuleschwänzen

Es folgen Besuche bei Ärzten, Psychologen. Treffen mit Schulsozialarbeitern und dem Jugendamt. Es ist ja kein klassisches Schulschwänzen. Überall sei die Meinung gewesen: Ein komischer Fall, das hatten wir noch nie. Nicht zur Schule gehen – das ist in Deutschland eine Ordnungswidrigkeit und wird mit Bußgeld belegt.

Dabei sei es der Mutter nur um das Wohl des Kindes gegangen, beteuert sie: Kinderrechte, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Selbstverantwortung und Selbstbestimmtheit: „Es geht doch um ’Mimis’ eigene Bedürfnisse und darum, wie wir sie als Familie darin unterstützen.“

Marie fliegt vom Gymnasium

Als wäre die Geschichte nicht schon kompliziert genug, spielt auch der Vater eine Rolle – ein Professor, der zur Hälfte das Sorgerecht habe, weit weg wohne und seit anderthalb Jahren keinen Kontakt zur Tochter habe. Nach einem halben Jahr fliegt Marie-Helen wegen der vielen Fehltage vom Gymnasium. Sie soll an eine Gemeinschaftsschule. Und während der Vater seine Tochter am Gemeinschaftsschulteil der Nordseeschule St.Peter-Ording anmelden will, möchte die Mutter am liebsten gegen die Schrägversetzung klagen. Der Fall landet vor dem Familiengericht des Husumer Amtsgerichts. Der Richter urteilt sinngemäß: Schulabstinenz gefährdet das Wohl des Kindes. Dabei habe das Jugendamt diese Gefahr gar nicht gesehen, beklagt die Mutter.

Für die Scharfs fängt der Fall an, absurd zu werden. Der Mutter droht Beugehaft, wenn sie die Tochter nicht zwingt, zur Schule zu gehen. Oder umgekehrt: Wenn die Tochter sich nicht für die Mutter opfert. So jedenfalls sieht es neben Mutter und Tochter auch ein kleiner Kreis von Unterstützern der Familie aus Nordfriesland: „In anderen Bundesländern gibt es bereits Präzedenzfälle mit positivem Ausgang, sprich die Wege zu selbstbestimmter Bildung werden schon gangbar gemacht, die betroffenen Familien entkommen der Illegalität und Stigmatisierung“, schreiben sie in einem Brief an unsere Zeitung.

Krämpfe und Schwindel

Allein um ihre Mutter zu schützen, geht die 14-Jährige wieder zur Schule. Nach ein paar Tagen in der Klasse wird die Tochter krank: Bauch- und Kopfschmerzen. Sie habe das Gefühl, ihr Wille wird mit Füßen getreten. Später kommen auch noch Krämpfe und Schwindel dazu.

Ist sie neben dem Aufbegehren gegen den Schul- und Unterrichtszusammenhang auch unterfordert? „Wenn die anderen drei Aufgaben bearbeiten, habe ich zu Hause schon fünf Seiten gelesen“, sagt Marie-Helen. Sie lernt lieber mit Texten, Websites oder Lern-Apps, dem „Sofa-Tutor“ oder im Kontakt mit Jugendlichen aus ihrem sozialen Umfeld zu Hause auf Eiderstedt sowie aus der internationalen „Schulfrei“-Bewegung (siehe Kasten).

Schulpflicht müsse eingehalten werden

Das Kieler Bildungsministerium sagt, man könne aus Gründen des Datenschutzes nicht zu dem aktuellen Fall Stellung nehmen. „Als Aufsicht müssen wir aber generell darauf achten, dass die Schulpflicht eingehalten wird“, sagt Sprecherin Patricia Zimnik. Schulpflicht bedeute in Deutschland nicht nur Wissensvermittlung: „Es gibt die Institution Schule auch, weil die Schule eine Rolle beim sozialen Lernen spielt.“ Überhaupt sei die Schulpflicht rechtlich unstreitig.

Und wie geht es weiter? Nächste Woche soll ein Gespräch in der Schule stattfinden. „Ob wir dabei sind, wissen wir nicht“, sagt die Mutter. Sie wollen sich aber nicht mehr verstecken und das Thema auf die Bühne bringen – die Mutter als Musikerin, die Tochter mit einem „Tanz für die Freiheit“ auf Youtube. Antje Scharf: „Ich werde meine Tochter auf jeden Fall unterstützen.“

Schulfrei

In Deutschland gilt die Schulpflicht. Schätzungen zufolge gibt es dennoch hunderte, vielleicht bis zu 1000 Kinder und Jugendliche, die mit Unterstützung ihrer Eltern ohne Schule lernen – mit Hausunterricht, Lernprogrammen, Apps und anderen Methoden. Der Verein „Schulfrei“  nennt sogar sehr viel höhere Zahlen von „Freilernern“.

In der  Schweizer ist in liberalen Kantonen  Hausunterricht erlaubt – „Unschooling“ oder „Homeschooling“. Anders als in Deutschland gilt dort zwar  Bildungs-, aber nicht Schulpflicht. Teils brauchen  Eltern die Erlaubnis des Staates, und  Kinder müssen Lernkontrollen absolvieren. Immer wieder haben deutsche Gerichte Heimunterricht verboten, etwa der Bundesgerichtshof  2007: „Eltern sind auch dann nicht berechtigt, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen, wenn einzelne Lehrinhalte oder -methoden  ihrem  Glauben entgegenstehen.“