Text von Jana-Marie Lühring

Closer, 27.02.2019 – Jana-Marie Lühring

Meine Tochter unterrichtet sich selbst

Dass Kinder mal keine Lustauf Mathe büffeln und Geschichte pauken haben – das kennen wohl alle Eltern. Doch als Antje Scharf ihre damals Zwölf­ jährige Tochter eines Abends sagen hört: „Mama, ab morgen gehe ich nicht mehr zur Schule“, weiß sie, dass in diesem Moment keine Diskussionen und pädagogischen Tricks mehr helfen würden. „Es war ihr ernst damit“, sagt Antje zu CLOSER.

Angefangen hatte alles schon in der Grundschule. „Marie-Helen war in der ersten Klasse, als wir krankheitsbedingt von Schleswig-Holstein nach Berlin ziehen mussten“, erinnert sich Antje. Mit dem Schulwechsel war nicht nur der Verlust von gerade geknüpften Freundschaften für Marie-Helen verbunden, sondern auch eine Irritation. Plötzlich wurden zum Beispiel andere Techniken benutzt, um Schreiben zu lernen. Marie musste jetzt beispielsweise das A anders schwingen und sah keinen Sinn darin. „Es ist doch ganz egal wie – Hauptsache, man kann es lesen“, dachte sie damals.

Als Marie und Antje dann zurück in den Norden zogen, wiederholte sich das Spiel. Jeden Morgen musste Antje mit ihrer Tochter kämpfen, um sie zur Schule zu bewegen. Bis 2015 ging das so, dann hatten Antje und Marie-Helen auf dem Weih- nachtsmarkt eine schicksalhafte Begegnung. An einem Stand verkaufen Eltern mit ihren Kindern Naturkosmetikprodukte und reisen von Stadt zu Stadt. Marie-Helen ist irritiert, es ist Mittwoch, haben die Kinder denn keine Schule? Nein, erzählen diese. Sie seien Freilerner, bringen sich alles, was sie lernen wollen, selbst bei!

Damit gehören sie zu einer Gruppe von etwa 200.000 Kindern, schätzt der Deutsche Lehrerverband, die in Deutschland nicht zur Schule gehen, weil sie entweder von ihren Eltern zu Hause unterrichtet werden oder selbstständig lernen. Marie-Helen beginnt, sich über das Konzept zu informieren, sie ist begeistert. Denn schließlich will sie lernen – nur nicht in der Schule! Auch Antje recherchiert, lässt sich Lektüre empfehlen. Sie versteht den Wunsch ihrer Tochter, sieht die Vorteile im freien Lernen, gerade weil sie selbst einmal Lehrerin war. „Ich wurde so ausgebildet, dass man sehr viel Wert auf die Selbstentfaltungskräfte legt, dass man die Kompetenzen der Kinder schult, und das geht vor allem über Eigenreflexion und dass immer auf das Individuum geguckt wird“, sagt Antje. „Und nur wenn man mit Begeisterung Dinge lernt, bleiben sie halt hängen.“
Dennoch: In Deutschland herrscht Schulpflicht. Wird dieser nicht nachgekommen, drohen Eltern Verfahren wegen Kindeswohlgefähr­ dung, Bußgelder und sogar Haftstra­fen. Damit ist Deutschland eine Ausnahme, denn in den meisten Ländern gibt es bereits Modelle, um Kindern Bildung und Ab- schlüsse außerhalb der Schule zu ermög- lichen. Dass Antje hierzulande eine Straftat begeht, ist ihr bewusst. „Aber ich kann meine Tochter weder erpressen noch zur Schule zwingen“, sagt sie. „Kinder haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.“

Seit zwei Jahren lernt Marie-Helen zu Hause. Sie ist sehr kreativ, malt, schreibt Geschichten und eignet sich seit Kurzem ein Instrument an. Soziale Kontakte hat sie zum Beispiel im Turnverein, wo sie auch selbst Gruppen unterrichtet. Sie vernetzt sich mit anderen, sie lernt selbstbestimmt und nimmt sich über Plattformen auch den Schulstoff vor. Sie kann sich vorstellen, einen externen Hochschul-Abschluss zu machen. Doch die rechtlichen Konsequenzen für Antje sind drastisch. Ihr könnteeine Haftstrafe bevorstehen, immer wieder werden ihr Zwangsgelder verordnet. Antje musste sich inzwischen einen Anwalt nehmen. Die Kosten kann die Familie kaum tragen. Deswegen wollen Antje und ihre Tochter eine Crowdfunding-Aktion starten, Marie-Helen hat auch eine Website einge- richtet, auf der sie zum Thema Freilernen informiert. Denn aufgeben wollen Antje und Marie-Helen nicht. Schließlich ebnen sie mit ihrem Kampf vielleicht auch anderen Familien, die sich mit unserem Schulsystem nicht arrangieren können, den Weg.

(Jana-Marie Lühring)